Die Jahreslosung

Die Jahreslosung 2003

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.

1. Samuel 16,7 (L)

Das war die Drohung der Kindertage, wenn die elterliche Macht nicht auszureichen schien: „Der liebe Gott sieht alles!“ Man musste sich der himmlischen Kontrolle versichern, damit klar war: Das Kind tut nichts, was die Eltern nicht wollen. Gott sieht das Herz – das Innerste, den Punkt, wo alle Gedanken und Gefühle zusammenlaufen. Da ist nichts zu verheimlichen, da ist keine Verstellung möglich. Da ist alles in allem, Klarheit und Wahrheit.

Der Mensch dagegen, der ist täuschbar. Dem kann man was vormachen. Und es wird einem selbst etwas vorgemacht: Da habe ich mich wieder einmal in einem Menschen getäuscht! Nicht wahr – man denkt: auf den kannst du dich verlassen, so sicher wie auf das Amen in der Kirche – und dann? Hat er mich so im Stich gelassen!. Na ja: Man kann den Menschen nur bis vor den Kopf gucken, wie man so sagt. Und da kann man sich täuschen. Und ist enttäuscht. Aber worüber ist man eigentlich enttäuscht? Darüber, dass man hintergangen wurde? Oder darüber, dass es diese Grenze des Erkennens gibt? Dass die Chance größer ist, enttäuscht zu werden, sich getäuscht zu haben, weil ich mir zwangsläufig von anderen etwas vormachen lasse, als dass sich meine Erwartungen an andere Menschen erfüllen, mein Glaube an sie, mein Vertrauen in sie? Enttäuschung, das heißt vor allem: Meine Erwartungen werden enttäuscht. Mein Bild vom anderen stimmt nicht.

Gerade am Beginn eines neuen Jahres, wo man noch einmal über das Vergangene nachdenkt und mit Hoffnung und Plänen sich auf Neues einstellt, merkt man, dass diese ‚Vertrauensfrage’ eine der wichtigsten Fragen überhaupt ist, die Unterscheidung zwischen ‚Fürchte dich’ und ‚Fürchte dich nicht’. Grundsätzliches Misstrauen gegen grundsätzliches Vertrauen. Also ist diese Jahreslosung doch eine Drohung? Egal, was du tust, gleichgültig, wem du vertraust, du wirst enttäuscht werden, weil du die anderen Menschen ja nicht wirklich kennst? Weil du nicht weißt, was wirklich in ihnen vorgeht?

Ich erlebe die Jahreslosung für 2003 anders. Ich erlebe sie nicht als zynische Ansage: Du wirst auf jeden Fall enttäuscht werden, also wappne dich. Ich erlebe sie als Ansage einer neuen Freiheit: Du musst dich nicht grämen, wenn du dich getäuscht hast – das liegt im Wesen des Menschen. Sondern du darfst die Klarheit und Verletzlichkeit und Begrenztheit deiner Erkenntnis leben. Natürlich werden andere dich missverstehen – so wie du sie missverstehst. Immer wieder, mal mehr, mal weniger. Aber du darfst auch wissen, dass hinter der Fassade dessen, was vor Augen ist, eine Tiefe schlummert, die du nur erahnen kannst. Bei jedem Menschen. Auch bei dir selbst. Vollkommenheit ist unter uns Menschen nicht möglich, nur Annäherung. Aber in der Annäherung kann sich der menschliche Blick zum göttlichen Blick weiten, jedenfalls gelegentlich. Und man erkennt: Da ist mehr, als ich auf den ersten Blick wahrnehmen kann. Das macht mutig und bescheiden.
Und das brauchen wir.
2003.
Immer.

Motiv: Kichenfenster, "Der verlorene Sohn" von Kees de Kort
Text: Albrecht Simon

Gerne stellen wir Ihnen unsere Jahreslosungsmotive für Ihre Kirchengemeinde zur Verfügung: Download Jahreslosungen

Keine passenden Artikel gefunden …

▲ nach oben ▲